Adipositas-Paradoxon durch neue Studie widerlegt

22. März 2020
Übergewicht - Quelle: pixabay.com - mohamed_hassan

Eine der bisher umfangreichsten Metastudien hat das Adipositas-Paradoxon widerlegt und bestätigt, dass bereits geringes Übergewicht das Sterblichkeitsrisiko signifikant erhöht. Ideal ist laut dem Studienergebnis ein BMI im Bereich zwischen Normal- und Übergewicht.

Genf (Schweiz). Laut Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehören Übergewicht und Fettleibigkeit inzwischen zu den am weitesten verbreiteten vermeidbaren Gesundheitsrisiken. Im Vergleich zum Jahr 1975 hat der Anteil der übergewichtigen Menschen über 18 Jahren sich bereits fast verdreifacht und liegt bei derzeit etwa 40 Prozent (1,9 Milliarden Menschen). 13 Prozent der Erwachsenen (650 Millionen Menschen) sind sogar fettleibig. Dies hat dazu geführt, dass inzwischen die Mehrheit der Weltbevölkerung in Staaten lebt, in denen Übergewicht und Fettleibigkeit mehr Menschen tötet als starkes Untergewicht.

Definiert sind Übergewicht und Fettleibigkeit durch die WHO als „unnormale oder exzessive Fetteinlagerungen, die möglicherweise die Gesundheit beeinträchtigen.“ Als Berechnungsgrundlage dient dabei der Body-Mass-Index (BMI), eine einfache Skala, die das Gewicht im Verhältnis zur Größe setzt (kg/m2).

Bei Erwachsenen hat die WHO dabei folgende Werte als übergewichtig oder fettleibig definiert:

  • BMI gleich oder größer 25 als Übergewicht
  • BMI gleich oder größer 30 als Fettleibigkeit

Zu den größten Risikofaktoren durch Übergewicht gehören Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie zum Beispiel die Herzinsuffizienz.

Große Metastudie bestätigt Adipositas-Paradoxon

Obwohl die durch Übergewicht und Fettleibigkeit ausgelösten Gesundheitsprobleme zweifelsfrei vorhanden sind, kam eine im Fachmagazin JAMA publizierte Metastudie im Jahr 2013 zu dem Ergebnis, dass Übergewichtige (BMI 25 - 29,9) ein geringeres Sterberisiko als Normalgewichtige (BMJ 18,5 - 25,9) haben. In der Medizin wird dies als „Adipositas-Paradoxon“ beschrieben.

Erstellt wurde die Metastudie von Wissenschaftlern des US-National Center for Health Statistics (CDC) unter Leitung von Katherine Flegal. Insgesamt wurden Gesundheitsdaten von 2,88 Millionen Menschen aus 97 Studien in der Meta-Analyse ausgewertet. Es handelte sich dabei um die größte Studie, die den Einfluss des BMI auf die Sterberate untersucht hatte.

Hazard Ratio signifikant niedriger

Die in der Metaanalyse ermittelte Hazard Ratio bei Übergewichtigen ist mit 0,94 6 Prozent geringer als bei Normalgewichtigen. Normalerweise würde die Wissenschaft einen so geringen Unterschied noch nicht als klinisch relevant einstufen, aufgrund der großen Datenmenge der Metastudie konnte aber von einer statistischen Signifikanz ausgegangen werden.

Darüber hinaus ermittelte Flegal sogar, dass auch Menschen mit Grad I-Adipositas (BMI 30 - 34,9) ein 5 Prozent geringes Sterberisiko besitzen. Das Signifikanzniveau wurde aufgrund der kleineren Stichprobe hier allerdings nicht erreicht. Erst bei Menschen mit Grad II/III-Adipositas (BMI von 35 und höher) zeigen die Daten der Metastudie mit 1,29 ein deutlich höheres Sterblichkeitsrisiko.

Frühere Studien mit ähnlichen Ergebnissen

Vor der Erstellung der umfangreichen Metastudie, hat Flegal bereits im Jahr 2005 im Fachmagazin JAMA eine Studie veröffentlicht, die auf Daten der Querschnittsuntersuchung National Health and Nutrition Examination Survey der CDC basiert und deren Ergebnisse ebenfalls ein Adipositas-Paradoxon bestätigen.

Als mögliche Ursache für den paradoxen Zusammenhang aus Übergewicht und einem geringeren Sterblichkeitsrisiko nennt Flegal kardioprotektive metabolische Effekte. Außerdem könnte laut Flegal eine bessere Betreuung von übergewichtigen Menschen durch Ärzte dazu führen, dass im Vergleich zu normalgewichtigen Menschen Gesundheitsprobleme früher diagnostiziert und damit auch besser behandelt werden.

Publikations-Bias beim Adipositas-Paradoxon?

Andere Wissenschaftler sehen hingegen beim Adipositas-Paradoxon einen Publikations-Bias, der dazu führt, dass aufgrund der hohen Aufmerksamkeit solcher Studienergebnisse selektive Veröffentlichungen erfolgen.

Möglicherweise zeigen die Studienergebnisse aber auch, dass der BMI nicht das richtige Parameter zur Bewertung von Übergewicht ist. Steven Heymsfield und William Cefalu vom Pennington Biomedical vertreten daher die Ansicht, dass zukünftige Studie neben der Taillenweite auch Laborparameter für systemische Entzündungen berücksichtigen sollten.

Adipositas-Paradoxon widerlegt

Inzwischen wurde das Adipositas-Paradoxon durch die Global BMI Mortality Collaboration (GBMC), eine Vereinigung von 500 Forschern aus 300 Universitäten und Instituten, widerlegt. Laut einer im wissenschaftlichen Journal The Lancet von der GMBC publizierten Studie erhöht schon leichtes Übergewicht das Sterberisiko deutlich.

Im Vergleich zur Metaanalyse von Flegal, die 2,88 Millionen Gesundheitsdaten ausgewertet hat, ist die aktuelle Studie mit 10,6 Millionen Probanden und 239 ausgewerteten Studien noch umfangreicher. Emanuele Di Angelantonio von der Universität Cambridge erklärt, dass es den Wissenschaftlern bei der Auswertung der Studien gelungen ist, Verzerrungen zu vermeiden, die bei Flegal zum Adipositas-Paradoxon geführt hatten.

Rauchen führt zum Adipositas-Paradoxon

Dazu gehört beispielsweise Rauchen, dass das Körpergewicht senkt aber das Sterblichkeitsrisiko erhöht. Eine mangelnde Berücksichtigung dieses Faktors führt deshalb dazu, dass die Hazard Ratio bei normal- und untergewichtigen Menschen ansteigt, obwohl die eigentliche Ursache dafür das Rauchen ist. Auch chronische Erkrankungen wie, die zu Gewichtsverlust führen, haben den gleichen Effekt und sorgen daher bei Nichtbeachtung für das Adipositas-Paradoxon.

Zur Vermeidung dieser Verzerrungen haben die Wissenschaftler um Di Angelantonio deshalb nur Probanden analysiert, die niemals geraucht haben und die nicht unter chronischen Krankheiten litten. Todesfälle in den ersten fünf Jahren nach der Gewichtserhebung wurden ebenfalls nicht berücksichtigt. Wie Di Angelantonio erklärt, hätte die Studie des GBMC ebenfalls das Adipositas-Paradoxon bestätigt, wenn die Forscher diese Faktoren nicht berücksichtigt hätten.

Grenze zwischen Normal- und Übergewicht optimal

Laut der adjustierten Metastudie haben Menschen an der Grenze zwischen Normal- und Übergewicht das niedrigste Sterblichkeitsrisiko. Schon geringes Übergewicht (BMI 25 – 27,5) erhöht hingegen das Mortalitätsrisiko um 7 Prozent, Menschen mit einem Gewicht knapp vor der Fettleibigkeit (BMI 27,5 – 30) haben ein 20 Prozent höheres Mortalitätsrisiko.

Grad I-Adipositas (BMI 30 – unter 35) erhöht das Sterberisiko um 45 Prozent, Grad II-Adipositas (BMI 35 – unter 40) sorgt für ein 94 Prozent Sterberisiko und Grad III-Adipositas (BMI 40 oder höher) erhöht das Risiko eines vorzeitigen Todes um 300 Prozent.

Konkret führt dies zum Beispiel dazu, dass Männer mit Adipositas Grad I zu 29,5 Prozent vor ihrem 70. Geburtstag sterben. Bei Männern mit Normalgewicht sind es nur 19 Prozent. Adipositas Grad I erhöht bei Frauen das Sterblichkeitsrisiko  vor dem 70. Lebensjahr hingegen nur von 11 auf 14,6 Prozent. Adipositas wirkt sich also laut den Studienergebnissen doppelt so stark auf Männer aus.

JAMA, doi: 10.1001/jama.2012.113905

JAMA, doi: 10.1001/jama.293.15.1861

The Lancet, doi: 10.1016/S0140-6736(16)30175-1